FREUDE

DOROTHEE SÖLLE, MYSTIK UND WIDERSTAND:

FREUDE
In den mittelalterlichen spirituellen Ratschlägen wurde immer wieder von einem nicht zu beschreibenden Zustand gewarnt für den es verschiedne Namen gab:
inertia (Trägheit), acedia (Unmut), nausea (Ekel), pigritas (Faulheit), tarditas (Stumpfheit). Alle diese Wörter wiesen auf einen freudlosen, antimystischen Zustand hin: eine Untätigkeit, die mit Betrieb einhergehen kann, einem Lebensekel, der in der morbiden Kunst besteht, aus allem, was ist, nur den Verfall und die Zerstörung herauszulesen, eine Lebensfaulheit, in der wir zu träge sind, um den Glanz Gottes in der Schöpfung zu suchen oder ihn wieder herauszuputzen. Nicht schreien und nicht jubeln können, weder fluchen noch beten können wurde damals als Unglück und Verstörung angesehen, beide Äußerungen gehörten in vielen Kulturen, zum Beispiel auch der indianischen, zusammen. In der postindustriellen Lebenswelt gibt es eine gegenstandslose Lebenstrauer, die an die im Mittelalter beklagte und bekämpfte Mattigkeit erinnert – nur dass die Stimmen der Selbstermunterung unter uns schwach sind. Jammern ist leichter als Loben; dazu gehört keine große Kunst. Man kann oft eine seufzende Genüsslichkeit feststellen und genüssliche Seufzer hören. So sicher es Lebenszeiten gibt, in denen wir so sehr geschlagen sind, dass keine Zunge mehr zum Loben da ist, so unerlässliche ist doch, dass wir zu allen anderen Zeiten für die Lebensfreude zuständig sind, und das bedeutet zugleich: für die Schönheit.

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Franz von Asissi (1181/2-1226) hat neben der Liebe vielleicht keinen anderen Seelenzustand so duchlebt und verkörpert wie die Freude. Seinen Brüdern erklärte er:
„Das ist der große Triumph des Teufels, wenn er uns die Fröhlichkeit des Geistes rauben kann. Er führt einen feinen Staub mit sich, den streut er in kleine Dosen durch die Ritzen des Gewissens, um die reine Gesinnung und den Glanz der Seele zu trüben.
Die Freude aber, die das Herz des geistlichen Menschen erfüllt, macht jenes todbringende Gift der Schlange zunichte. Ist einer aber traurig und meint er, verlassen zu sein in seinem Kummer, so reibt ihn entweder die Traurigkeit auf, oder er überlässt sich leeren Zerstreuungen. Wenn sich die Traurigkeit festsetzt, wächst das Übel. Wenn es sich nicht in Tränen löst, bleibt ein dauernder Schaden.“

Die Abwehr der Melancholie gehört in die Mitte der franziskanischen Spiritualität. Damit ist nicht die tiefe, wirkliche Trauer gemeint; vor ihr fürchtet sich Franziskus nicht, aber er flieht diese vom Teufelsstaub bedeckte Freudlosigkeit und Lebensunfähigkeit, die Trägheit der Sinne, die uns nichts sehen, nichts schmecken und nichts hören lässt, jene sanfte, alles überziehende Trauer, die nicht weint und nicht betet, weil sie uns fühllos macht. Von Franz wird erzählt, dass er wenn er nur einen Hauch von ihr in seinem Herzen spürte, seine Zuflucht zum Gebet nahm. Beten, singen, loben, tanzen – das waren seine Gegenmittel gegen die Trauer. Wenn ihn eine Krankheit quälte, fing er an, ein Lied zu singen zum Lobe Gottes in den Geschöpfen. Vor der stumpfen Unerreichbarkeit, die die freudlose Leere mit sich bringt, ist Franziskus geflohen: ins Gebet und – geheimnisvoll immer wieder – in die Tränen.

Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand, Kreuzverlag 2014. S. 254-256.

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