ANTIGONE IN ZEITEN WIE DIESEN
Dieses Konkretisieren ist Voraussetzung der integralen Struktur. Dann es kann nur das Konkrete, niemals das Abstrakte integriert werden. Und wir verstehen unter Integrierung den Vollzug einer Gänzlichung, die Herbeiführung eines Integrum, das heißt die Wiederherstellung des unverletzten ursprünglichen Zustandes unter bereicherndem Einbezug aller bisherigen Leistung. Die Konkretisierung dessen, was sich in der Zeit entfaltend und im Räumlichen erstarrend auffächerte, ist der integrale Versuch, die „Größe“ des Menschen so weit aus ihren Teilen wiederherzustellen, daß sie sich selber bewußt dem Ganzen integrieren kann. Der Integrierende muß also nicht nur die Erscheinung, seine diese nun dinglicher, seien sie mentaler Art, konkretisiert haben, sonder er muss es vor allem auch vermocht haben, seine eigne Struktur zu konkretisieren. Das aber bedeutet unter anderem auch, daß ihm nicht nur die verschiedenen Strukturen durchsichtig und bewußt werden, die ihn konstituieren, sondern daß er auch ihrer Auswirkungen auf sein eigenes Leben und Schicksal gewahr wird und die defizient wirkenden Komponenten durch eigene Einsicht derart meistert, daß sie jenen Grad an Reife und Gleichgewicht erhalten, der Vorbedingung jeder Konkretisierung ist. Nur die Komponenten, die auf diese Weise in sich selber gleichgewichtige, gereifte und gemeisterte Konkretionen sind, vermögen Bausteine der Integration zu sein. Das Schwierige daran ist – wir werden noch im nächsten Kapitel davon zu sprechen haben -, daß es sich jeweils um ein Sich-adaptieren-Können unseres Bewußtseinsvermögen an die verschiedenen Bewußtseinsgrade der einzelnen Strukturen handeln muß. Denn eignet der archaischen Struktur der Tiefschlaf, der magischen Schlafcharakter, der mythischen Traumcharakter, der mentalen Wachheits-Charakter, so ist mit einer bloßen bewußtseinsmäßigen Erhellung dieser zum Teil bewußtseinsschwachen Zustände nicht nur nichts getan, sondern im Gegenteil: dies Zustände vom Bewußtsein her bloß aufzuhellen, hieße, sie zerstören. Erst wenn sie infolge einer Konkretion integriert sind, können sie, zwar nicht mental erhellt, wohl aber integral durchsichtig und gegenwärtig werden: das heißt transparent oder diaphan. Indirekt resultieren aus dem soeben Gesagten zwei nicht unwichtige Folgerungen: erstens, daß die Intelligenz oder die rationale Schärfe nicht mit dem Bewußtsein identisch sind; zweites, daß es sich beim Vollzug der Integration niemals um eine Bewußtsein-Erweiterung handeln kann, von der vor allem in der heutigen Tiefenpsychologie und auch gewisse „geistige“ Gesellschaften halb-okkulten Charakters sprechen; Bewußtsein-Erweiterung ist lediglich räumlich gedachte Quantifizierung des Bewußtseins, wodurch sie illusorisch wird. Es kann sich nur um Bewußtseins-Intensivierung handeln, und dies nicht deshalb, weil ihr etwa ein qualitativer Charakter zugesprochen werden könnte, sondern weil sie ihrem Wesen nach „außerhalb“ einer qualitativen Wertung oder quantitativen Entwertung steht.
Textabschnitt von Jean Gebser aus seinem Werk: Ursprung und Gegenwart, Erster Teil, 290. Chronos Verlag. 2. Auflage 2021. S. 190-191