ANTIGONE IN ZEITEN WIE DIESEN
JEAN GEBSER ÜBERWINDUNG UND DAS NOTWENDIG NEUE
Es kann sich nicht darum handeln, ein Postulat zu geben; es kann sich nur um eine Darstellung der latent in uns und in unserer Gegenwart vorhandenen Möglichkeiten handeln, die im Begriff sind, akut, also wirkend und damit Wirklichkeit zu werden. Deshalb gehen wir in den nachfolgenden Ausführungen von zwei grundsätzlichen Überlegungen aus:
1. Mit einer bloßen Interpretation unserer Zeit ist nichts getan; es bedarf des Nachweises konkreter Erscheinungen, die als Neues sichtbar werden und das Antlitz nicht nur unserer, sondern der Zeit als solcher verändern.
2. Eine Überwindung des jetzigen Zustandes der Welt, die wahrscheinlich ihren rationalistischen und technokratischen Höhepunkt bald erreichen wird, kann weder durch die Ratio noch durch die Technokratie, aber ebensowenig durch ein Predigen und Mahnen zu Ethos und Moral oder durch ein irgendwie geartetes Zurück geschehen.
Wir können nur eins tun: In der Betrachtung aller Äußerungen unserer Zeit so weit und tief vorzustoßen, daß uns die dämonischen und zerstörenden Aspekte nicht mehr bannen, so daß wir nicht nur sie sehen, sondern hinter und unter ihnen die unermeßlichen Keimlinge des Neuen wahrnehmen, für das die einstürzende Welt den Humus liefert. Diese Keime und Ansätze müssen sichtbar und einsehbar gemacht werden. Und die Einsicht in die Kräfte, die zur Entfaltung drängen. hilft ihrerseits diesen Kräften, sich zu entfalten.
Textabschnitt von Jean Gebser aus seinem Werk: Ursprung und Gegenwart, Erster Teil, 290. Chronos Verlag. 2. Auflage 2021. S. 71-72.